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Der Wolf im Thurgau – früher und heute
Der Wolf bewegt die Gemüter. Hierzulande zwar weniger als anderswo. Doch auch der Thurgau ist Wolfsland. Das zeigt der Blick auf die Geschichte und die aktuelle Situation dieser Tierart im Thurgau.

Roman Kistler
Wildtierbiologe, Leiter Jagd- und Fischereiverwaltung Thurgau

Hannes Geisser
Biologe,
Redaktor TNG
Frühste Nachweise
Die Geschichte des Wolfes im Kanton Thurgau ist bis heute nur lückenhaft erforscht. Archäologische Fundstellen geben Hinweise auf seine Anwesenheit in frühgeschichtlicher Zeit. Demnach lebten Mensch und Wolf auch hier jahrtausendelang Seite an Seite. Die frühsten bekannten Wolfsbelege für den Thurgau sind 32 Knochen – darunter ein vollständiger Unterkiefer – von mindestens drei Individuen aus der Pfahlbausiedlung Arbon Bleiche 3.

Unterkiefer eines Wolfes aus der Pfahlbausiedlung Arbon Bleiche 3, Alter ca. 5400 Jahre. Der Pfeil markiert Schnittspuren. Bild: Daniel Steiner, Amt für Archäologie Thurgau
Sie sind rund 5400 Jahre alt. Schnittspuren und Hackspuren an den Knochen weisen darauf hin, dass die Menschen den Wolf verwertet haben: Sie zogen ihm das Fell ab, zerlegten das Tier und assen vermutlich sein Fleisch. Aus den Mittelfussknochen und Zähnen fertigten sie Schmuckanhänger an.
«Im Thurgau muss jederzeit mit Wölfen gerechnet werden.»
Roman Kistler, Leiter Jagd- und Fischereiverwaltung
Thurgau
Auch auf dem Sonnenberg bei Stettfurt wurde der Wolf gejagt. In den Fundschichten der Horgener Kultur (um 2800 v. Chr.) sowie der Frühbronzezeit (um 1700 v. Chr.) kamen wenige Wolfsknochen zum Vorschein. Aus dem spätrömischen Kastell Ad Fines (Pfyn) sind sechs Knochen überliefert. Somit waren auch die spätantiken Jäger erfolgreich auf der Jagd.
Zahlreiche Hinweise bis 1800
Nebst archäologischen Funden weisen schriftliche Quellen, z.B. Dorfchroniken, auf das frühere Vorkommen des Wolfes im Thurgau hin. Clemens Hagen (1926– 1990), ehemaliger Kantonsforstmeister im Thurgau, versuchte 1980 das Vorkommen des Wolfs im Kanton zu rekonstruieren. Seine zitierten Quellen geben zwar nur ein bruchstückhaftes Zeugnis der Anwesenheit des Wolfes auf dem damaligen Gebiet des heutigen Kantons Thurgau wieder. Umso eindrücklicher zeigen sie aber, wie bedrohlich die Bevölkerung die Anwesenheit von Wölfen empfand. Schon damals war der Wolf «Behördensache». So hält die Jagdverordnung der Landgrafschaft Thurgau, zu dieser Zeit Untertanengebiet der Eidgenossenschaft, im Jahr 1641 fest, dass sich alle (Männer) an der Wolfsjagd zu beteiligen haben, wenn «Sturm geschlagen» wird. Wer dem nicht Folge leistete, dem drohte eine Busse von zwei Gulden. Die Abschussprämie für einen Wolf betrug 40 Gulden, damals wohl eine stattliche Summe Geld.

Der Kadaver von M109 kommt als erstes Belegexemplar eines Wolfes nach 200 Jahren in die Sammlung des Naturmuseums. Bild: Naturmuseum Thurgau
Auch finden sich Einzelhinweise, wie jener aus dem Jahr 1673 von Junker Escher von Schloss Wellenberg: «Die Wölfe in diesen Landen, deren es ziemlich viel haben muss, sind schon bis einen Pistolenschuss nah an das Schloss gekommen. Habend in der Herrschaft allbereits zwei Jungpferde und etlich gering Vieh niedergerissen. Aller Anzeige nach haben sie im Schlosstobel allhier Junge gesetzt.» In der Region Wellenberg lebten demnach mehrere Wölfe, die sich auch fortpflanzten.
«Der Wolf ist im Thurgau ausgerottet»
Mit diesen wenigen Worten beschreibt der Thurgauer Geschichtsschreiber Johann Adam Puppikofer (1797–1882) im Jahr 1837 die Situation des Wolfes im Thurgau. Der letzte bis heute bekannte Hinweis auf eine Wolfsjagd im Thurgau datiert ins Jahr 1746 aus dem Raum Bichelsee. Eine letzte schriftlich belegte Sichtung von Wölfen in der Region Nussbaumen stammt von 1800. Grund für das Verschwinden des Wolfes aus dem Thurgau war – wie auch in anderen Regionen der Schweiz und Europas – nebst der Bejagung eine unkontrollierte Entwaldung im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Der Wald musste Ackerflächen weichen zur Ernährung einer stetig wachsenden Bevölkerung, das Holz wurde als Bau- und Brennholz benötigt. Das hatte entsprechende Auswirkungen auf die Thurgauer Wildfauna, wie Puppikofer in seiner Schrift «Der Kanton Thurgau, historisch, geographisch, statistisch geschildert» aus dem Jahr 1837 eindrücklich festhält: «Rehe sind äusserst selten, auch Otter nicht so häufig (…). Hirsche und Wildschwein wie Wölfe und Bären ausgerottet.»

Fertige Skelettmontage von M109 in der Werkstatt von Präparatorin Sabrina Beutler. Bild: Sabrina Beutler
Rückkehr in die Schweiz und den Thurgau
Die Rückkehr des Wolfs in die Schweiz beginnt ab den frühen 1990er-Jahren. Einzeltiere, zumeist Männchen italienisch-französischer Herkunft, wandern immer wieder in die Kantone Wallis, Tessin und Graubünden ein. Der erste Beleg einer Fortpflanzung von Wölfen in der Schweiz gelingt 2012 im Calanda-Massiv (GR). Fünf Jahre später kommt es zum ersten Nachweis eines Wolfs auf Thurgauer Boden nach über 200 Jahren. Seither sind vier verschiedene Wölfe im Kanton Thurgau nachgewiesen. Zwei Tiere haben das Kantonsgebiet nach kurzer Zeit wieder verlassen, der dritte Wolf – das Männchen M109 – wurde wegen schwerwiegender Erkrankung (Räude) im Februar 2020 durch die Wildhut erlegt. Sein Kadaver kam als erster Beleg eines Wolfs nach dessen Verschwinden aus dem Thurgau ins kantonale Naturmuseum, welches daraus eine Skelettmontage anfertigen liess. Eine vermutete vierte Wolfspräsenz im Mai 2022 liess sich genetisch nicht bestätigen.
«M109 kam als erster Beleg eines Wolfes seit 200 Jahren ins Naturmuseum.»
Hannes Geisser, Leiter Naturmuseum
Der letzte gesicherte Nachweis stammt aus dem April 2024. Im Raum Dussnang tötete ein Grossraubtier drei Alpakas. Die Analysen der Rissbilder und der vorgefundenen Spuren sowie die genetische Untersuchung von Speichelproben bestätigen einen Wolf als Verursacher zweifelsfrei.
Angesichts der Populationsentwicklung im Alpenraum muss in Zukunft auch im Kanton Thurgau jederzeit mit dem Auftreten von wandernden Wölfen gerechnet werden. Seither werden auch hierzulande Halterinnen und Haltern von Nutztieren taugliche Herdenschutzmassnahmen empfohlen. Die Rückkehr dieser ehemals heimischen Tierart ins ursprüngliche Verbreitungsgebiet stellt – wie sich in den öffentlichen Diskussionen in den vergangenen Jahren zeigte – eine Herausforderung für unsere Gesellschaft dar und wir werden wieder lernen müssen, einen pragmatischen Umgang mit dieser neuen Situation zu finden.

Der Weg des Wolfes M109 in den Thurgau. Karte: Jagd- und Fischereiverwaltung Thurgau
Animation über die Geschichte des Wolfs im Thurgau